Der Jugendroman „Retro. Geh nicht online“ stellt die Schüler*innen der El Dorado High vor eine schwierige Aufgabe:
Ein Jahr lang keine Sozialen Medien.
Ein Jahr lang kein Smart Phone.
Ein Jahr lang nur Technik aus den 90igern.
Eine Challenge, die wehtut (Klappentext), oder? Wärst du trotzdem dabei?
Als ich den Aufhänger des Jugendromans „Retro. Geh nicht online“ von Shusterman und Lapuente gelesen habe, war ich jedenfalls gleich dabei. Sofort hat mein Lehrerhirn gerattert: Wow! Das kann man bestimmt echt gut im Unterricht lesen – so viele Anknüpfungspunkte.
And guess what?
Der Jugendroman hat mich absolut nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil: Mit der Mystery-Story über die verschwindenden Schüler*innen, der pikanten Romanze und dem Aspekt der Interkulturalität, den Lunas Familie miteinbringt, hat der Jugendroman meine Erwartungen nur weit übertroffen! Schon an dieser Stelle kann ich behaupten: Da müssen meine 10er nächstes Jahr durch. 😍
📘📘 Zusammenfassung 📘📘
Nach einer doch sehr hinterhältigen Aktion ihrer besten Freundin Samantha entschließt Luna, sich an ihr zu rächen und postet ein peinliches Video von ihr in der Limbo-App.
Dieser Post geht jedoch viral, er gerät komplett außer Kontrolle und die bisher beliebte Samantha sieht sich mit schlimmem Mobbing konfrontiert – so schlimm, dass sie keinen Ausweg mehr sieht und versucht, sich umzubringen.
Unter Schock wendet sich Luna an die App-Entwickler. Diese zögern nicht lange. Sie kommen an die Schule und organisieren als Reaktion auf den Vorfall die „Retro-Challenge“. Die Herausforderung besteht darin, ein Jahr lang ohne moderne Technik auszukommen: kein Smartphone, keine Sozialen Medien, kein mobiles Internet, keine spontanen Selfies oder auch Google Maps. Am Ende steht der Gewinn eines College-Stipendiums – ein Stipendium, das Luna gut gebrauchen könnte.
Diese harte Herausforderung schreckt einen Teil der Schüler*innen ab. Dennoch entscheidet sich mehr als die Hälfte der Schule, die Challenge anzunehmen – selbst der berühmte Influencer Axel verzichtet hierfür auf sein Social-Media.
In den nächsten Wochen lernen die Jugendlichen nach der Abgabe ihrer Mobiltelefone ganz neue Seiten an sich kennen. Sie organisieren wundervolle Projekte, entdecken ihre Kreativität und wachsen als „Retro-Gruppe“ eng zusammen. Doch der Umgang mit den Kids, die ausscheiden, lässt in Luna und ihren Freunden erste Zweifel an der Challenge aufkommen.
Als dann auch noch Schüler*innen auf unerklärliche Weise verschwinden, beginnen die Jugendlichen nachzuforschen. Sie müssen dabei nicht nur feststellen, dass die Verträge für sie sehr ungünstig angelegt sind, sondern dass hinter dieser Challenge viel mehr steckt, als sie angenommen haben.
📘📘 Rezension 📘📘
Das Gesamtkonzept des Jugendromans „Retro. Geh nicht online“ gefällt mir richtig gut. Wir durchleben die Geschichte aus der Perspektive von Luna auf zwei unterschiedlichen Zeitebenen – die Kapitel der Backstory hin zur Gegenwart sind jeweils mit einem Songtitel überschrieben, während die Kapitel der Gegenwartsebene jeweils als „Pause“ zwischengeschoben sind. Die Aufteilung ist für die Schüler*innen demnach leicht nachvollziehbar. Zudem lässt die Playlist bereits erste Spielräume für Diskussionen und Entwicklung von Neugierde.
Durch die mysteriösen „Pause“-Kapitel wird von Anfang an Spannung aufgebaut, wie und warum Luna nun in Gefangenschaft geraten ist. Die jugendlichen Leser*innen sind von Anfang an mit einem Rätsel konfrontiert, das ihre Lesemotivation wecken und hochhalten sollte.
Luna selbst ist eine vielschichtige, ambivalente Figur. Als Tochter spanischer Einwanderer lässt sie nicht nur immer wieder spanische Sprüche ihrer Mutter mit einfließen, sondern zeigt zudem auf, welche Schwierigkeiten sich für Einwanderer vor allem in der amerikanischen Gesellschaft zeigen. Darüber hinaus beweist sie Mut, Stärke, Loyalität sowie Einsatzbereitschaft – sie mutiert quasi zur Heldin, die bereit ist, sich am Ende für das Wohl ihrer Freunde ins Feuer zu werfen.
Selbst wenn aufmerksame Leser*innen wohl ziemlich schnell mehr hinter der Challenge wittern als nur eine simple Hilfe des Unter
nehmens, bleibt die Challenge spannend, vor allem, wenn man all die positiven Aspekte noch mit einbezieht, die sie bringt: Die Jugendlichen nehmen sich endlich Zeit für Hobbies, sie entdecken neue Talente in sich, erkennen den Wert von Zusammenhalt und Freundschaft, führen tiefgründige Gespräche über eigene Ziele, das Influencerdasein oder eben auch die Organisation der Challenge – nicht umsonst wurde u.a. der Song „Wind of Change“ für eines der Kapitel gewählt, denn die Jugendlichen müssen sich mit der Abgabe ihrer Smartphones ganz neu ausrichten.
Mich persönlich hat die Story von Anfang an gepackt – spätestens bei den toten Rehen im Wald war ich endgültig verschollen zwischen den Seiten und habe den Jugendroman „Retro. Geh nicht online“ nicht mehr aus der Hand gelegt. Es sei dem Roman daher verziehen, dass ich ein paar Vergleiche nicht nachvollziehen konnte, wie z.B. das Leben wie eine „Achterbahn ohne Leitplanken und Sicherheitsgurte“ (S.233) – ich denke, das transportierte Gefühlt ist verständlich 😊
👨🏫 Einsatz in der Schule
Für mich ist „Retro. Geh nicht online“ von Shusterman & Lapuente eine passende Lektüre für die 10.Klasse als Übergang in die analysestarken Romane der Oberstufe. Der Jugendroman bietet genug Anknüpfungspunkte aus der Lebenswelt der Schüler*innen, während er gleichzeitig viel Analysepotenzial und Möglichkeiten tiefergehender Klassengespräche bietet. Er eignet sich demnach sowohl als Plenumslektüre als auch zur individuellen Lektüre für eine Buchbesprechung oder ein Portfolio.
Die Figuren sind sehr vielschichtig und individuell angelegt. Bereits hier lassen sich nicht nur ausgiebige Charakterisierungen schreiben zu jedem Einzelnen der Gruppe um Luna (oder z.B Wandzeitungen) sondern auch die Handlungsmotive hinterfragen, die sie zu der Retro-Challenge geführt haben.
Vor allem aber bieten sie für jeden Identifikationspotenzial: die schüchterne Luna, die über sich hinauswächst, der extrovertierte Axel, der sich von seinem Influencerdasein lösen möchte, die queere Mimi, die endlich kein Außenseiter mehr ist, Darnell, der unbeschwert mit seiner Homosexualität umgeht aber lernen muss, dass nicht jeder seine sexuelle Ausrichtung so einfach akzeptiert sowie der einsame Kilo, der endlich jemanden an sich heranlässt. Die Gegenspieler Vince und Jade sind ähnlich vielfältig, auch wenn ich zugegebenermaßen Jade keine Sympathie entgegenbringen konnte.
Weitere Themen, die sich für den Unterricht anbieten:
- Bremst Social Media uns aus? Die alternativen Projekte der Jugendlichen
- Cybermobbing: Kann es jeden treffen? Wie sieht die Lösung aus?
- Vom Retromaniac zum Star – die wahren Hintergründe der Challenge
- Tragen Apps und Plattformen wie Meta und Co. Soziale Verantwortung?
- Zusammenhang zwischen Songs und Kapitelinhalt
- Interkulturalität im Roman – auf welchen Ebenen zeigt sich dies?
- Eine eigene Challenge entwerfen für eine kürzere Zeit
- Über AGB und Knebelverträge diskutieren
- Was passiert mit den gesammelten Daten bei den einschlägigen Plattformen?
Der Jugendroman „Retro. Geh nicht online“ bietet demnach viele Möglichkeiten für den Unterricht – vor allem die Frage, ob Social Media unser Potenzial ausbremst finde ich persönlich eine sehr spannende Diskussion mit den Schüler*innen.
*** Fazit ***
Ich vergebe hier 5⭐- trotz des Umfanges sollte es bei der Story einfach sein, selbst die lesefauleren Lerner für den Roman zu begeistern.😉
Die aufgeworfenen Fragen sind gerade in dem Alter Fragen, die unbedingt durchdiskutiert gehören – bei einer Bildschirmzeit von mehr als 6 Stunden täglich ist es nicht ganz von der Hand zu weisen, dass die Jugendlichen ohne ihr Smartphone zu viel mehr fähig wären. Das Zusammenspiel von Story, Realitätsbezug, Denkanstößen und Analysepotenziel machen den Roman für mich zu einer starken Übergangslektüre in der zehnten Klasse.
Bleibt für mich die Frage: Bin ich auch „Retro im Herzen. Handy in der Hand“ (S.289) oder doch schon Generation Social Media?
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