Eigentlich mag ich Romane mit nationalsozialistischem Hintergrund nicht. Es ist einfach eine Deformation aus meiner eigenen Schulzeit. Jedes Jahr, jeder Sprachunterricht : Aufarbeitung der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft anhand von Romanen – von „Jugend ohne Gott“ über „Sansibar oder der letzte Grund“ zu „Andorra“ und „Damals war es Friedrich“ wurde alles hoch- und runtergelesen, zu Tode besprochen und mit Referaten zugekleistert. Im Französischunterricht erging es uns ähnlich.
Diese Redundanz hat mir den Ekel eingetrieben. Das ging so weit, dass ich in meinem Geschichtsstudium einen Riesenbogen um Neueste Geschichte gemacht habe. Nicht ein einziges Seminar zum Dritten Reich habe ich belegt. So viel zu meiner persönlichen Schülererfahrung mit Literaturunterricht in der Sekundarstufe 😉
Entsprechend skeptisch war ich, als mir eine Kollegin „Die Gespenster von Demmin“ in die Hand gedrückt hat – einen Roman, der sich u.a. mit dem Massensuizid in Demmin beschäftigt am Ende des Zweiten Weltkrieges.
Doch die sarkastisch-zynische Hauptprotagonistin Larissa konnte mich ziemlich schnell von sich überzeugen, sodass ich nach dem Lesen zugeben kann: Es war eine tolle Lektüre – die sich vor allem mit der Gegenwart beschäftigt, in der dieser historische Kontext (gottseidank) nur am Rande mitschwingt.
Zusammenfassung
„Klar ist [das Kopfüberhängen] auch eine Foltermethode. Und genau deshalb muss ich das üben. Ist nämlich gar nicht mal so unwahrscheinlich, dass ich in meinem Leben irgendwann gefoltert werde.“ (Die Gespenster von Demmin, S.11)
So fulminant führt die 15jährige Larissa – die von allen nur Larry genannt werden will – den Leser in ihre kleine Welt in Demmin ein. Sie hat große Pläne: Das Mädchen will späterhin Kriegsreporterin werden. Und sich auch entsprechend darauf vorbereiten. Im Moment tut sie dies vor allem durch Selbstexperimente und selbstkonzipierte Trainingseinheiten, wie bspw. die Hand möglichst lang in Eiswasser halten, oder eben kopfüber am Baum hängen.
Um für ihre Reisen zu sparen, jobbt Larry dann nebenbei auf dem Friedhof. Sie hält die Gräber in Ordnung, räumt Müll weg, um dann mit der Friedhofswärterin einen Tee zu trinken und mit ihr über ihr Training zu reden.
Zuhause wartet nämlich nicht viel auf das Mädchen. Ihre alleinerziehende Mutter arbeitet als Krankenschwester im Schichtdienst, ist jedoch auch so nicht viel zuhause, da sie mit ihren momentanen Lovern unterwegs ist oder gerade wieder dated. Als die Mutter Larry nun eröffnet, dass sie einen neuen festen Freund hat – den um einiges jüngeren Benno – und dieser bei ihnen einziehen soll, wird Larrys Welt auf den Kopf gestellt. Zudem soll die Garage mit den Kartons zugunsten von Benno geräumt werden. All die Erinnerungen an den toten Bruder sollen einfach einem Trödler mitgegeben werden, ohne dass Larissa hier irgendwie ein Mitspracherecht hätte.
Dass sie sich aufgrund der Annäherung zu Timo zudem mit ihrer besten Freundin verkracht, ist der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt: Larry entscheidet sich dazu, ihren Vater zu kontaktieren und ihn auf seiner nächsten LKW-Strecke nach Polen zu begleiten – ohne die Mutter zu informieren.
Während Larissa den Tücken der Pubertät und der Liebschaften ihrer Mutter zu entgehen versucht, kämpft die Nachbarin Frau Dohlberg mit ganz anderen Gespenstern. Die alte Frau muss sich eingestehen, dass sie nicht mehr alleine leben kann. Sie soll alsbald ins Altersheim umziehen, daher räumt sie ihre Sachen zusammen – was verkauft werden soll, was entrümpelt werden soll. Dies erfüllt sie nicht nur mit einer tiefen Melancholie und Einsamkeit, sondern wirbelt auch viele Erinnerungen an früher auf, Erinnerungen an die Mutter, die Schwestern, Erinnerungen an das Kriegsende und den schicksalhaften Tag des Massensuizids. Frau Dohlberg trifft am Ende eine schwierige, folgenschwere Entscheidung für sich selbst.
Rezension
Der Roman „Die Gespenster von Demmin“ wird aus zwei Perspektiven erzählt: Einerseits kommt Larissa in der Ich-Form zu Wort, andererseits steht Frau Dohlberg in der dritten Person im Fokus einiger Kapitel. In kurzen knackigen Erzählabschnitten laufen die Erzählstränge parallel, bis Larry am Ende wieder zuhause und die Nachbarin einsam verstorben ist.
Die kurzen Kapitel – teilweise sind sie nur 2-3 Seiten lang – machen den Roman gut lesbar. Larrys entspannte, humorvolle und fast schon zynische Art lockert die schweren Themen des Romans auf und macht den Roman auch für ‚lesefaulere‘ Klassen gut zugänglich. Auch wenn das dtv-Unterrichtsmaterial eher thematisch vorgeht, lässt sich der Roman auch gut in einzelne Erzählabschnitte einteilen, sodass man den Lernenden kürzere Leseaufträge geben kann.
Mir persönlich hat gut gefallen, dass der historische Hintergrund der Jugend von Frau Dohlberg nur szenenweise hochkocht, ohne dass dies zu einem zentralen Erzählstrang erwächst. Es ist nur ein Faktor der Gegenwartserzählung, nur eine Erklärung für die momentanen Geschehnisse im Nachbarhaus, ohne dass dies jedoch epische Auswüchse annimmt.
Die Figuren des Romans sind schön gezeichnet, ambivalent charakterisiert, sodass deren Interaktion logisch aus dem jeweiligen Figurencharakter erwächst. Timo, Larissa und Frau Dohlberg sind die detailliertesten Figuren, aber auch die Neben- und Seitencharaktere sind entsprechend gut ausgearbeitet. Das Mysterium um den toten Bruder hält die Spannung hoch bis zu Larissas Polenreise, davon abgesehen, dass Larissas seltsames Training für das ein oder anderen Augenbrauenheben sorgt.
Alles in einem 4/5 möglichen Sternen von mir. Nicht ganz meine Themen, aber ein solider Roman, der viele Anknüpfungspunkte für die Mittelstufe bietet. Meiner Meinung nach ist der Roman aber erst ab der zehnten Klasse einsetzbar, die neunte Klasse scheint mir hier zu früh.
Einsatz in der Schule
Verena Kesslers „Gespenster von Demmin“ bieten einige Anknüpfungspunkte für den Unterricht ab der zehnten Klasse, zudem ist der Lesefluss gut und die kurzen Kapitel erleichtern die Lektüre für die Lernenden.
Zunächst einmal gibt es unzählige Themen für Kurzreferate: Innerhalb der Erzählung werden bekannte Kriegsreporter*innen erwähnt, David Blaine findet Erwähnung, Demmin als Stadt, der historische Hintergrund, das Survival Training, …
Darüber hinaus würde ich das Figurengeflecht mit den Lernenden auflösen, vor allem auch die Dynamik zwischen unterschiedlichen Figuren wie das Mutter-Tochter-Verhältnis, das Verhältnis zwischen Steffan, Timo und Frau Dohlberg, die Dynamik zwischen Sarina, Larry und Timo. Es gibt in diesem Kontext viel zu diskutieren. Auch wenn einige Figuren außen vor bleiben wie Timos Vater Steffan, so sind die Schicksale der Figuren am Ende alle miteinander verwoben.
Die Mutter, Larry , Frau Dohlberg und Timo bieten sich als Figuren zur Charakterisierung an.
Weitere zentrale Themen:
· Lebensträume und ihr Realitätscheck (Timo und Larry)
· Vereinsamung im Alter
· ‚Entrümpelung‘ des Lebens beim Einzug ins Altersheim
· Kommunikationsprozesse analysieren (Eltern-Kind, Freundschaft)
· Freundschaften und deren Bedingungen
· Euthanasie und Freitod
Vor allem in der ganzen Thematik des Massensuizids und Frau Dohbergs tragischem Tod sehe ich Möglichkeiten, fächerübergreifend mit dem Ethik- oder Geschichtskurs zu arbeiten, um die Hintergründe mehrperspektivisch zu beleuchten und das Fremdverständnis der SuS zu schulen. Die Analyse der Kommunikationsprozesse im Zusammenhang mit den kurzen Szenen bietet zudem Raum, einiges in Form eines Standbildes oder einer kurzen szenischen Darbietung zu erarbeiten.
Fazit
Ich denke, dieser Roman ist in der Mittelstufe ein guter Einstieg in die ‚ernstere Literatur‘ bzw. in komplexere Thematiken. Larrys Perspektive und Art erleichtern den Lesefluss. Zudem kommt Verena Kessler hier ganz ohne mahnenden Zeigefinger aus: Die Erzählung steht für sich, sodass der Lesende sich hier ganz autonom positionieren und Stellung beziehen kann.
„Die Gespenster von Demmin“ sehe ich gut in der Zeit, in der Kommunikationstheorien in anderen Fächern besprochen werden, da sich die Figurendynamik gut zur Besprechung von gelingender und misslingender Kommunikation eignet.Schlussendlich bietet der Roman ebenfalls Möglichkeiten zum offenen und sozialen Arbeiten. Alles in einem also ein sprachlich angepasster, kurzer Roman für die Mittelstufe.
Hierzu findet ihr auf eduki:
Der Blogpost hat dir weitergeholfen? Dann freue ich mich über etwas Wertschätzung und eine Antwort auf die Frage, ob du diesen Roman mit deinen SuS bearbeiten würdest.
Ansonsten freue ich mich auch über einen Kaffee 😉